Swami Amritaswarupananda erläutert, warum Guru Purnima der heiligste Tag im indischen Kalender ist.
(Dies ist eine Übersetzung von Swamijis Beitrag vom 4. Juli.)
Religiöse Texte aller Glaubensrichtungen stellen Gott als die Verkörperung von Mitgefühl, Liebe, Selbstlosigkeit und anderen noblen Eigenschaften dar. Aber ist es möglich, mit Gott zu reden? Kann Göttlichkeit gesehen, berührt, gefühlt und erfahren werden?

Sie kann – im und durch die vollkommenen spirituellen Meister.
Diese sind dauerhaft im Zustand der Einheit mit dem Göttlichen – der unveränderlichen Wahrheit des Seins – verankert und wahrhaft Gott, das Außergewöhnliche, in einer gewöhnlichen menschlichen Form. Es ist durch unsere Verbindung mit ihnen und durch ihre Beobachtung, dass wir greifbar verstehen können, dass es Gott gibt. Durch sie können wir die Pracht des Göttlichen anschauen, fühlen Gottes Macht und erfahren Gottes Schönheit. Somit dient der Guru als Brücke – als Verbindung zwischen der Welt der Namen und Formen und dem namenlosen und formlosen Höchsten Sein. Diese Brücke bringt uns selbst zu Gott. Obwohl der Kalender des Sanātana Dharma aus einer kontinuierlichen Abfolge religiöser und spiritueller Feiertage besteht, ist Guru Pūrṇima der heiligste Feiertag für den Schüler.
Der Guru dient als Brücke – als Verbindung zwischen der Welt der Namen und Formen und dem namenlosen und formlosen Höchsten Sein. Diese Brücke bringt uns selbst zu Gott.
Ein Wissenschaftler am Los Alamos National Laboratory, wo Amerika als Teil des Manhattan-Projekts an der Atombombe arbeitete, erzählte mir kürzlich eine Begebenheit. Eines Tages besuchte Dr. Leon M. Lederman, ein Teilchenphysiker, der 1988 den Nobelpreis für Physik erhielt, das Labor. Während er mit einer Gruppe von High-School-Schülern sprach, wurde er gefragt, ob er eine Botschaft für sie hätte. Er erwiderte: „Ich weiß nicht. Ich weiß nicht. Ich weiß nicht.“ Dr. Ledermann betonte die Wichtigkeit von Demut – dass unsere Haltung sein sollte „wie wenig wir über das Universum wissen“. Dr. Ledermann war der Schöpfer des Begriffs „Gottteilchen“ für das Higgs-Boson (Boson ist ein Name für Teilchen). Er schrieb ein Buch mit dem Namen Symmetrie & Das schöne Universum, in dem er sagt, dass er glaubt, dass alles im Kosmos in Verbindung miteinander steht, vom kleinsten Atom bis zum massivsten Planeten.
Tausende Jahre, bevor die zeitgenössische und moderne Wissenschaft begann, die Geheimnisse des Universums zu erforschen, erfassten die Weisen der alten Zeit – mit unstrittiger Logik und Analyse – das Vorhandensein einer Superintelligenz jenseits der Zeit und dieser Welt der Vielfalt.
Tausende Jahre, bevor die zeitgenössische und moderne Wissenschaft begann, die Geheimnisse des Universums zu erforschen, erfassten die Weisen der alten Zeit – mit unstrittiger Logik und Analyse – das Vorhandensein einer Superintelligenz jenseits der Zeit und dieser Welt der Vielfalt. Sie nannten sie Brahman – das absolute Bewusstsein, das höchste Selbst. Nachdem sie den Schleier durchdrungen hatten, der diese kostbare Wahrheit verhüllt, teilten sie ihr Wissen mit der nächsten Generation der Sucher und schufen so die Guru-Schüler-Linie, die bis heute fortwährt. Guru Pūrṇima ist der Tag, an dem wir unsere Schuldigkeit gegenüber dieser Linie und allen erleuchteten Meistern anerkennen, die sich in der Guru-Schüler-Linie wie verschiedene Edelsteine der kostbarsten Halskette aneinanderreihen.

Ein „Physiker“ wird so genannt, weil er tiefes Wissen über die Interaktionen zwischen Materie und Energie erworben hat. Ein talentierter Schauspieler, Sänger oder Maler ist als berühmter „Künstler“ bekannt, weil er zu einer Verkörperung der Kunst geworden ist. Ähnlich verhält es sich mit Ärzten, Lehrern usw. Diese Meister bleiben nicht an der Oberfläche ihrer Fachgebiete. Sie tauchen tief hinein, so tief, dass sie ein gewisses Maß an Einheit damit erreichen. So ist es auch nicht unüblich, dass manche Menschen sich als eine Verkörperung ihres speziellen Fachgebiets oder ihrer Kunstform an sie wenden. In ähnlicher Weise ist der Sadguru – der das Höchste Absolute, Brahman, kennt – eins mit dem Absoluten geworden und wird als das Absolute angesprochen und geehrt. Guru Pūrṇima ist ein Tag, um sich daran zu erinnern. Wie die Muṇḍaka Upanischad sagt: „Wer das Höchste, Brahman, kennt, wird tatsächlich zu Brahman. In seiner Linie wird niemand, der Brahman nicht kennt, geboren. Er durchschreitet Kummer und Tugend und Laster und wird, da er von den Knoten des Herzen befreit ist, unsterblich.”
Für den wahren Schüler oder Devotee gibt es keinen anderen Gott als seinen Guru und er denkt mit jedem Atemzug an seinen Guru. Dennoch reserviert er den ersten Vollmondtag nach der Sommersonnenwende als eine Zeit, seine Schuldigkeit und Dankbarkeit gegenüber seinem Guru zu bekräftigen und sich erneut seinem Weg und seinem Meister hinzugeben. Es ist eine Zeit für den Schüler und Devotee, über den Fortschritt nachzudenken, den er gemacht hat, und eine Bestandsaufnahme zu machen, was er noch zu erreichen hat. Wie Amma, Sri Mata Amritanandamayi Devi, der Guru, zu dessen Lotus-Füßen ich Zuflucht gesucht habe, sagt: „An diesem Tag sollten wir ein wenig uns selbst analysieren. Wir sollten uns unsere Handlungen und Einstellungen ansehen und uns fragen: ‚Wo profitiere ich? Wo erleide ich Verluste?‘ Wir sollten einen aufrichtigen Entschluss fassen, unseren spirituellen Fortschritt zu sichern und unsere negativen Neigungen aufzugeben.“
Guru Pūrṇima fällt in eine Nacht, in der das Mondlicht am hellsten scheint. Tatsächlich handelt es sich dabei gar nicht um das Licht des Mondes, sondern um eine bloße Reflektion des Sonnenlichts. An diesem heiligsten aller Tage sollten sich alle Schüler und Devotees daran erinnern, dass all das Licht in ihrem Leben tatsächlich vom Guru gekommen ist. Es ist ein Tag, diese Wahrheit in Demut zu fühlen. Wie Einstein sagte: „Jeder, der sich ernsthaft der Kultivierung der Wissenschaft widmet, wird zu der Überzeugung gelangen, dass allen Gesetzen des Universums ein Geist innewohnt, der dem Menschen weit überlegen ist und dem gegenüber wir uns mit unseren Möglichkeiten demütig fühlen müssen.”
Lasst uns uns alle vor dieser großen Macht verneigen, die der Guru verkörpert. Denn, wenn wir dies tun, erkennen wir eines Tages vielleicht, dass wir nie der Mond, sondern die ganze Zeit über die selbstleuchtende Sonne waren.
Swami Amritaswarupananda Puri ist der zweite Vorsitzende des Mata Amritanandamayi Math und Ammas Schüler. Er ist Autor mehrerer Bücher. Das neueste Buch trägt den Titel „The Irresistible Attraction of Divinity„.