Das Gefühl, welches unserem wahren Selbst am nächsten kommt, ist die Liebe. Unsere Leben sollen in Liebe geboren werden, in Liebe gelebt werden und schließlich in Liebe enden. Tatsächlich hat Liebe kein Ende, sie ist ewig und verbindet jeden Aspekt der Schöpfung – Menschen miteinander, mit der Natur und mit Gott. Somit ist der Glanz der Liebe für immer in uns als unser wahres Wesen enthalten. Obwohl die meisten von uns ihr Leben damit verbringen, Liebe zu suchen, stirbt die Mehrheit leider, ohne sie gefunden zu haben. Wir sollten jedoch Mut aus der Tatsache schöpfen, dass unser wahres Wesen zwar vorübergehend vor uns verborgen ist, es jedoch nie zerstört werden kann.
Spiritualität strebt danach, diese Liebe wiederzuerwecken, unsere Augen ihr gegenüber wieder zu öffnen. Um dies zu erreichen, ist es nötig, ein bisschen Platz in unseren Herzen für andere zu schaffen. Spiritualität steht dem Streben nach materiellem Gewinn nicht entgegen. Sie erinnert uns lediglich daran, dass andere, genau so wie wir unsere Träume haben, auch ihre eigenen Träume haben. Deswegen sollten wir nicht auf die Träume anderer treten, um unsere eigenen Träume zu verwirklichen. Wir sollten anderen genau so helfen, wie wir uns selbst helfen.
Wenigstens 20 Prozent der tausenden von Menschen, die täglich in Indien zu mir kommen, taumeln am Rande der Armut und des Suizids. Als ich die Traurigkeit im Gesicht einer Frau sah, die kürzlich zu mir kam, fragte ich sie nach ihrem Problem. Sie erzählte mir, dass sie an chronischem Nierenversagen litt. Ihr Mann hatte sie nach ihrer Diagnose verlassen und sie somit allein mit ihren zwei Kindern gelassen. Ohne Ausbildung oder Beruf musste sie sich Geld von Kredithaien leihen, die sie nun nicht mehr in Ruhe ließen. Sie sagte: „Amma, um zu überleben, muss ich mich wöchentlich zehn Dialyse Einheiten unterziehen. Ich kann mir diese unglaubliche Menge an Geld, die dafür nötig wäre, nicht mal im Traum vorstellen. Deswegen bleibt mir keine andere Wahl, als manche dieser Einheiten auszulassen.“
Meine Augen füllten sich mit Tränen. Ich sagte ihr, dass sie sich keine Sorgen machen sollte- dass unser Krankenhaus sich um ihre medizinischen Belange kümmern würde, und dass der Ashram helfen würde, ihre Kinder zu bilden. Sie brach in Tränen aus, als sie dies hörte. Sie gab dann zu, dass sie so hoffnungslos gewesen war, dass sie vorgehabt hatte, ihre Kinder zu vergiften und anschließend Suizid zu begehen. „Ich hatte sogar schon den Abschiedsbrief verfasst.“
Was wäre passiert, wenn ich sie nicht nach ihrem Leben gefragt hätte? Es gibt tausende solcher Familien. Um sie zu sehen und ihnen zu helfen, brauchen wir lediglich Augen und ein fühlendes Herz.
Es wird immer Arm und Reich geben. Heutzutage übersteigt jedoch die Schere zwischen denen, die besitzen und denen, die nichts haben, jegliche Grenzen. Es ist wie ein Berg auf der einen Seite und ein Abgrund auf der anderen. Wenn wir diese Schere nicht schließen, könnte dies zu Unruhen, wenn nicht sogar Gewalt führen. Wir müssen eine Brücke des Mitgefühls bauen. Wir müssen eine Sichtweise kultivieren, bei der die essentielle Einheit aller Wesen anerkannt und geschätzt wird. Obwohl wir 1000 Sonnen in 1000 Wasserkrügen gespiegelt sehen, so gibt es doch nur eine einzige Sonne. Wenn wir das Bewusstsein in uns allen als eins sehen, werden wir eine Sichtweise entwickeln, welche die Bedürfnisse anderer vor unsere eigenen Begierden nach Luxusgütern stellt.
Wir haben nichts dadurch zu verlieren, Menschen mit Liebe und Zuneigung anzuschauen.
-Amma
Einmal verbrachte eine Frau einen Monat in unserem Ashram, die die Angewohnheit hatte, verschwenderisch Dinge zu kaufen. Später schrieb sie mir einen Brief. Sie erzählte, dass sie besessen von dem Gedanken war, sich eine teure Designer Uhr zu kaufen, nachdem sie vom Ashram wieder nach Hause zurückgekehrt war. Sie machte Überstunden, um das Geld für die Uhr zu sparen. Als sie genug gespart hatte, ging sie zum Juwelier. Als sie schon im Laden war, erinnerte sie sich plötzlich an das Waisenhaus des Ashrams. Sie dachte: „Zwar würde mich der Kauf dieser Uhr für eine kurze Weile glücklich machen, ich könnte das Geld jedoch stattdessen dafür verwenden, Menschen zu helfen, denen lebensnotwendige Dinge fehlen. Selbst eine 10€ Uhr ist ausreichend dafür, die Zeit angezeigt zu bekommen.“ Schließlich entschied sie sich dafür, eine billige Uhr zu kaufen und stattdessen den Armen zu helfen. Sie endete den Brief, indem sie schrieb: „Danke, dass du mir geholfen hast, mich wieder mit der mir innewohnenden Liebe zu verbinden.“
Solch eine grenzenlose Haltung wird in uns aufkommen, wenn wir Spiritualität für uns annehmen. Wenn unsere linke Hand verletzt ist, umsorgt sie die rechte Hand automatisch. Warum? Weil sie eins sind. Genauso wird uns das Anerkennen der Tatsache, dass wir alle im Wesen eins sind, dazu bringen, auch danach zu handeln und den Armen und Bedürftigen zu helfen. Dieses Verständnis und dieses Bemühen ist gemeint mit „ein bisschen Platz in unseren Herzen für andere schaffen“. Wenn wir dies schaffen, können wir nach und nach die Liebe erfahren, die unser wahres Selbst ist.
Denkt daran, wir alle haben etwas zu geben. Ein Lächeln kostet keinen Cent, und trotzdem vergessen wir nur all zu oft, selbst dieses anderen zu geben. Wir haben nichts dadurch zu verlieren, Menschen mit Liebe und Zuneigung anzuschauen. Selbst eine scheinbar bedeutungslose Tat kann anderen helfen.
Möge sich der Kreis der Liebe in jedem einzelnen entfalten und Stück für Stück die gesamte Schöpfung umschließen.
-Amma