Wir veröffentlichen hier die deutsche Übersetzung eines Beitrags von Amma, der im Februar im Online-Magazin „Thrive Global“ von Arianna Huffington erschienen ist.
Einheit in der Vielfalt
Über die Wichtigkeit, den Faden der Liebe zu finden, aus dem das Universum gewoben ist
Die Welt, die wir heute vor unseren Augen sehen, wird erschüttert von Gewalt, Wut und Zwietracht. Überall sehen wir Furcht, Anspannung und Angst. Diese Gruppe ist argwöhnisch gegenüber jener Gruppe. Jene Gruppe ist argwöhnisch gegen über dieser Gruppe. Es gibt ein konstantes Gefühl der Befürchtung und Rivalität.
Im Herzen dieses Problems liegt unsere konstante Wahrnehmung des „Andersseins“. Dieser Defekt in unserer Sichtweise hat sich so stark ausgeweitet, dass er nationale Grenzen durchbrochen und die Art und Weise verdorben hat, wie wir auf unsere Mitmenschen und manchmal sogar auf unsere eigenen Familienmitglieder schauen.
Es ist zwecklos, die Vielfalt der Welt zu leugnen – Vielfalt ist ihre ureigene Natur. Jede Nation, Religion und soziale Gruppe verfügt über ihre eigenen kulturellen Strukturen, Sichtweisen und Schwerpunkte. Während diese Vielfalt manchmal Hindernisse für Frieden und Harmonie zu schaffen scheint, sehen wir, wenn wir tiefer gehen und die hochherzigsten menschlichen Werte in unserem Leben umarmen, dass die Schönheit der Welt gerade in dieser Vielfalt liegt. Sie bringt Reichtum und Schönheit in unser Leben. Ist ein Bouquet, das aus einer Vielfalt von Blumen arrangiert ist, nicht viel schöner als ein Bouquet aus nur einer Blumensorte?
Ich reise jetzt seit 30 Jahren um die Welt und begegne Menschen aller Religionen, Nationalitäten und sozialen Schichten. Manchmal erzählt jemand mir, dass Ehemann, Ehefrau oder Kind in einem gewaltsamen religiösen Konflikt getötet wurde. Solche Ereignisse schmerzen mich zutiefst. Konflikte wie diese treten auf, weil sich Menschen die essentiellen Werte ihrer Religion nicht zu Herzen nehmen.
Die spirituellen Meister selbst, nach deren Leben und Lehren die verschiedenen Religionen gegründet wurden, praktizierten die hochherzigsten Ideale. Traurigerweise gelingt es ihren Anhängern häufig nicht, ihrem Vorbild gerecht zu werden. Die Essenz aller Religionen ist Liebe, Mitgefühl und das Erkennen der grundlegenden Göttlichkeit – egal welchen Namen man ihr gibt – auf der diese Welt und die menschliche Existenz aufgebaut ist. Tragischerweise geben die Menschen heute den äußeren Traditionen, die von Religion zu Religion variieren, ein zu hohes Gewicht, ein höheres Gewicht als den Werten im Kern ihrer Religion, die sie darüber vergessen. Daher sind diese Religionen, die ursprünglich Frieden und ein Einheitsgefühl fördern sollten, zu Werkzeugen von Kriegen und Konflikten geworden. Würden sich alle an die essentiellen Prinzipien ihrer Religion halten, ohne sich zu sehr um ihre äußeren Aspekte zu sorgen, dann könnte Religion zu einem Weg zum Weltfrieden werden.
Dies soll nicht die Wichtigkeit religiöser Disziplinen und Traditionen abtun. Tatsächlich haben sie ihren eigenen Stellenwert. Sie sind für unsere spirituelle Entwicklung erforderlich. Sie sind die verschiedenen Blumensorten, die dem Bouquet Pracht und Schönheit verleihen. Aber wir müssen uns erinnern, dass diese verschiedenen Bräuche nur ein Mittel zum Ziel der Religion sind, nicht das Ziel selbst.
“Wenn jemand auf die Frucht an einem Baum zeigt, blicken wir zur Fingerspitze und dann darüber hinaus. Wenn wir nicht über die Fingerspitze hinausblicken, bekommen wir nicht die Frucht. Heutzutage gelingt es den Anhängern aller Religionen nicht, die Frucht der Religion zu sehen und zu erlangen. Ihr Blick ist zu sehr auf die Fingerspitzen gehaftet – sie sind sogar regelrecht besessen von den Fingerspitzen.“ — Amma
Alle religiösen Führungspersönlichkeiten sollten die innere Essenz ihrer Religion hervorheben und die Gläubigen anhalten, die dort gefundenen Ideale zu praktizieren. Dies wird helfen, Konflikte zu lösen. Wir sollten uns erinnern, dass die Religion für die Menschheit gedacht ist – nicht die Menschheit für die Religion. Darüber hinaus gingen einige Aspekte der Religion auf die Bedürfnisse der Zeit ein, in der sie entstanden sind. Wenn ein stärkerer Fokus auf die Werte unserer Religion dies erfordert, sollten wir bereit sein, diese Praktiken zu untersuchen und zeitgemäße Änderungen vorzunehmen. Kein Heiliger, nach dem eine Religion gegründet wurde, hat je gesagt, dass Liebe und Toleranz nur den Anhängern desselben Glaubens entgegengebracht werden sollten. Das wäre so, als sagte man: „Wir sollten nur atmen, wenn wir mit unserer Familie und unseren Freunden beisammen sind, nicht im Beisein unserer Feinde.“
Das heißt nicht, dass wir keine besondere Liebe für unsere Religion, Nation oder Familie hegen sollten. Es heißt nur, dass wir niemals die natürliche Einheit im Herzen aller Vielfalt vergessen sollten. Denn in dem Augenblick, in dem wir diese Einheit aus den Augen verlieren, treten Probleme auf. Wenn wir sagen: „Unsere Religion ist die einzig wahre, Eure ist letztlich falsch“, ist ein Ausbruch von Zwietracht praktisch vorprogrammiert, weil es ist, als sagten wir: „Unsere Mutter ist eine Heilige, Eure Mutter ist ein Hure.“
Wir sollten versuchen zu verstehen, dass Schöpfung und Schöpfer nicht zwei sind. Genauso wie Gold in allem Goldschmuck vorhanden ist und ihn durchdringt, so durchdringt auch der Schöpfer die Gesamtheit dieser Schöpfung. Wenn wir ein solches Verständnis kultivieren können, verlieren wir niemals unsere natürliche Einheit aus den Augen. Genauso wie wir wissen, dass unsere Hände, Beine, Augen, Nase usw. verschiedene Teile unseres einen Körpers sind, können wir auch zu der Erkenntnis gelangen, dass alle Nationen, Religionen und Kulturen unterschiedliche Manifestationen einer alles durchdringenden Göttlichkeit sind.
Der Intellekt ist wie eine Schere. Seine Aufgabe besteht darin, zu durchtrennen und voneinander zu trennen. Andererseits ist das Herz wie eine Nadel. Es bringt alles zusammen, macht scheinbar verschiedene Dinge eins. Genauso wie wir ein Tuch in Formen schneiden und zusammennähen, um ein Kleidungsstück herzustellen, sind sowohl der Intellekt als auch das Herz von Nöten. Dennoch müssen wir in der Atmosphäre unserer heutigen Zeit eine besondere Aufmerksamkeit darauf legen, den Faden der universellen Liebe zu finden, aus dem das gesamte Universum gewoben ist.
Das edle Wesen einer Kultur wird an ihrer Toleranz und Weitherzigkeit gemessen, mit der sie verschiedene Gruppen unter einen Hut bringen kann. In diesem Licht sollten wir die Probleme unserer Zeit angehen. Lasst uns die Fehler der Vergangenheit auf sich beruhen lassen. Wir brauchen den Beginn einer Ära der Einheit auf der Grundlage von Liebe, Verständnis und Respekt für den religiösen Glauben der anderen. Alle religiösen Gruppen sollten bereit sein, darauf einzugehen – es ist das dringendste Bedürfnis unserer Zeit.
– Amma