Wir veröffentlichen hier die deutsche Übersetzung eines Beitrags von Amma, der im August 2017 im Online-Magazin „Thrive Global“ von Arianna Huffington erschienen ist.
Die Welt braucht das Mütterliche
Warum das Erwachen der Frauen & der Qualitäten von Mitgefühl, Geduld und Selbstlosigkeit wichtig für Frieden und Wohlstand in der Welt sind
So wie unsere beiden Augen, sind Männer und Frauen gleichwertig. Könnte man jemals sagen, dass das linke Auge wichtiger ist als das rechte? Oder das rechte wichtiger als das linke? Männer und Frauen sollen einander ergänzen – um in Harmonie und Kooperation zu wirken. Nur wenn ihre essentielle Gleichwertigkeit anerkannt wird und sie einander mit gegenseitiger Liebe und Respekt behandeln, wird die Gesellschaft Frieden und Wohlstand erreichen. Leider ist dies im größten Teil der Welt nicht der Fall.
Das Erwachen und selbstbewusste Auftreten der Frauen ist eines der dringendsten Bedürfnisse unserer Zeit. Dies gilt für alle Frauen – nicht nur für jene in den Entwicklungsländern. Frauen in Ländern, in denen der Materialismus vorherrscht, sollten zur Spiritualität erwachen, und Frauen in Ländern, in denen sie gezwungen werden, in den engen Wänden der Tradition zu bleiben, sollten zu modernem Denken erwachen. Es wird allgemein angenommen, dass Frauen und die Kulturen, in denen sie leben, durch Erziehung und materielle Entwicklung erwachen werden, aber die Zeit hat uns gelehrt, dass dieses Konzept zu begrenzt ist. Erst wenn Frauen die ewige Weisheit der Spiritualität einher mit einer modernen Erziehung annehmen, wird die Kraft in ihnen erwachen. Dann erheben sie sich zum Handeln.
„Das Erwachen und selbstbewusste Auftreten der Frauen ist eines der dringendsten Bedürfnisse unserer Zeit. Dies gilt für alle Frauen – nicht nur für jene in den Entwicklungsländern. Frauen in Ländern, in denen der Materialismus vorherrscht, sollten zur Spiritualität erwachen, und Frauen in Ländern, in denen sie gezwungen werden, in den engen Wänden der Tradition zu bleiben, sollten zu modernem Denken erwachen.“ — Amma
Wer sollte eine Frau aufwecken? Sie muss sich selbst erwecken. Während Aberglaube und primitive Bräuche und Regeln auch weiterhin existieren, können sie eine Frau in Wahrheit nicht davon abhalten, sich zu erheben – keine äußere Macht kann das. Aber die Gemüter vieler Frauen bleiben in diesen Spinnennetzen verstrickt. Sie müssen sich selbst daraus befreien. Alle Kräfte, die Frauen dafür benötigen – Liebe, Mitgefühl und Geduld – sind ihnen angeboren, da sie das eigentliche Wesen der in ihnen wohnenden Mütterlichkeit sind. Frauen brauchen nur zu dieser mütterlichen Macht erwachen.
Die Situation vieler Frauen kann mit der eines angeketteten Elefanten verglichen werden. Wenn ein in Gefangenschaft lebender Elefant ein Baby ist, wird er mit einem starken Seil oder einer Kette an einen Baum gebunden. Da es in seiner Natur liegt, frei herumzuwandern, versucht der Baby-Elefant instinktiv, sich vom Seil zu befreien, aber er ist nicht stark genug. Irgendwann gibt er auf. Wenn dieser Elefant später voll ausgewachsen ist, reicht ein dünnes Seil, ihn an einen kleinen Baum zu binden. Jetzt könnte er sich leicht befreien, aber da sein Geist durch die Kindheitserfahrungen konditioniert wurde, versucht er es erst gar nicht. Das Gleiche geschieht mit vielen Frauen.
Das grenzenlose Potential, das Frauen und Männern innewohnt, ist gleich. Wenn Frauen es wirklich wollen, ist es nicht schwierig, die Fesseln der Regeln und Konditionierungen abzustreifen, die die Gesellschaft ihnen auferlegt hat. Die Begrenzungen, denen Frauen zu unterliegen glauben, sind nicht real. Frauen müssen die Stärke aufbringen, über sie hinaus zu gehen. Die nötige Kraft dafür besitzen sie bereits. Sie befindet sich direkt in ihnen. Sobald diese Kraft wachgerufen wurde, kann niemand ihren Vormarsch in jeden Lebensbereich aufhalten.
Während Frauen letztlich alles in sich haben, was sie brauchen, um aufzuwachen und sich zu erheben, werden die richtigen Umstände und die Unterstützung durch andere ihnen sicherlich helfen. Wir müssen antiquierte und lähmende soziale und religiöse Konzepte beseitigen, die versuchen, Frauen zu unterdrücken. Außerdem sollten Männer niemals den Fortschritt einer Frau behindern. Männer sollten ihr den Weg freimachen – nein, sie sollten ihr den Weg bereiten.
Leider hegen viele Männern immer noch einen großen Widerstand, wenn es darum geht, den Wert der Frauen richtig zu verstehen, zu akzeptieren und anzuerkennen. Hierzu gibt es einen Witz: In einem Dorf lebte eine tief spirituelle Frau, die große Freude daran hatte, anderen zu dienen. Sie wurde zur ersten Priesterin dieser Gegend ernannt. Ihr großes Mitgefühl, ihre Bescheidenheit und Weisheit wurden von den Dorfbewohnern geschätzt. Dies machte die männlichen Priester eifersüchtig. Eines Tages wurden die Priester zu einer religiösen Versammlung auf einer Insel eingeladen, die drei Stunden mit dem Boot entfernt lag. Als die männlichen Priester das Boot bestiegen, hatte die Priesterin zu ihrem Verdruss bereits Platz genommen. Schon bald fuhr das Boot los, aber eine Stunde später gab der Motor seinen Geist auf. Der Bootsführer hatte vergessen, den Tank zu füllen. Es war kein anderes Boot in Sicht und niemand wusste, was zu tun sei. Da stand die Priesterin auf und sagte: „Macht Euch keine Sorgen! Ich besorge uns mehr Kraftstoff.“ Dann stieg sie aus dem Boot und ging über das Wasser. Die männlichen Priester waren erstaunt, merkten aber nur kurz an: „Schaut sie Euch an! Sie kann nicht einmal schwimmen!“
Dies bleibt nach wie vor die Haltung vieler Männer. Sie würdigen die Leistungen der Frauen herab. Männer müssen verstehen, dass Frauen keine Objekte wie Tonbandgeräte sind, die dazu da sind, von ihnen gesteuert zu werden: Abspiel, Pause, Stopp, Rücklauf… Außerdem sollten Männer den großen Verlust erkennen, den wir alle erleiden, wenn Frauen unterdrückt werden. In ihrer Unterdrückung verliert die Gesellschaft den potentiellen Beitrag von mehr als der Hälfte der Bevölkerung.
„Männer müssen verstehen, dass Frauen keine Objekte wie Tonbandgeräte sind, die dazu da sind, von ihnen gesteuert zu werden: Abspiel, Pause, Stopp, Rücklauf… Außerdem sollten Männer den großen Verlust erkennen, den wir alle erleiden, wenn Frauen unterdrückt werden. In ihrer Unterdrückung verliert die Gesellschaft den potentiellen Beitrag von mehr als der Hälfte der Bevölkerung.“ — Amma
Dennoch sollten Frauen ihre Tendenz aufgeben, an Männern herumzunörgeln. Den Männern kann ihre Haltung nicht vollständig zum Vorwurf gemacht werden. Genauso wie die Frauen wurden auch sie konditioniert. Anstatt die Männer zu beschuldigen, sollten sich Frauen geduldig und liebevoll bemühen, sie allmählich zu ändern. Wenn wir versuchen, die Blüten einer Blume mit Gewalt zu öffnen, während sie noch eine Knospe ist, gehen ihre Schönheit und ihr Duft verloren. Wir müssen sie auf natürlichem Wege erblühen lassen.
Keine echte Religion blickt auf die Frauen herab oder spricht geringschätzig über Frauen. Wenn wir einen tiefen Blick in die Religionen werfen, finden wir, dass sie alle eine große Liebe und Respekt für das Weibliche zum Ausdruck bringen. In Indien wurde das höchste Wesen niemals in einer ausschließlich männlichen Form verehrt. Es wird als die Göttin verehrt – als Saraswati, die Göttin der Weisheit und des Lernens, als Lakshmi, die Göttin des Wohlstands, und als Durga, die Göttin der Kraft und Stärke. Es gab eine Zeit als Männer die Frauen als Verkörperungen dieser Qualitäten verehrten. Die Frau wurde als Manifestation der Göttlichen Mutter betrachtet. Irgendwann wurde dieses Konzept aufgrund des Egoismus‘ bestimmter einflussreicher Männer und ihres Wunsches nach einer Oberherrschaft jedoch gestört und die Verbindung zwischen Frau und Göttin wurde aus unserer Kultur entfernt.
Wenn wir uns bemühen, überholte soziale und religiöse Konzepte zu beseitigen, die Frauen unterdrücken, finden wir häufig Unterstützung dabei. Bis vor Kurzem war den Frauen in Indien die Anbetung Gottes im inneren Heiligtum der Tempel verwehrt. Sie durften auch keinen Tempel einweihen oder vedische Rituale ausführen. Frauen hatten nicht einmal die Freiheit, vedische Mantren zu rezitieren. Aber unser Ashram ermutigt und ernennt Frauen, diese Dinge zu tun, und ich selbst führe die Einweihungszeremonie in allen Tempeln durch, die wir erbauen. Anfangs haben viele dagegen protestiert. Jenen, die uns in Frage stellten, erläuterte ich, dass wir einen Gott anbeten, der jenseits aller Unterschiede ist, der keinen Unterschied zwischen männlich und weiblich macht. Am Ende hat uns die Mehrheit der Menschen unterstützt. Tatsächlich waren diese gegen die Frauen gerichteten Verbote ursprünglich nicht Teil der hinduistischen Tradition. Sie wurden wie es aussieht später von Männer erfunden, um Frauen auszubeuten und zu unterdrücken.
Es wird allgemein angenommen, dass es sich bei der Religion, die Frauen den geringsten Status gibt, um den Islam handelt. Aber der Koran spricht von Qualitäten, wie zum Beispiel Mitgefühl und Weisheit sowie von Gottes essentieller Natur als weiblich. Auch Christus betrachtete Männer und Frauen als gleichwertig.
Für jene, die – wie Christus, Krishna, Buddha usw. – Gott realisiert haben, gibt es keinen Werteunterschied zwischen Männern und Frauen. Solche erleuchteten Personen sehen alle als gleichwertig. Wenn es irgendwo Regeln gibt, die verhindern, dass Frauen ihre rechtmäßige Freiheit genießen – Regeln, die ihren Fortschritt in der Gesellschaft behindern – dann sind diese keine Gebote Gottes, sondern sind aus dem Egoismus der Männer geboren.
„Wenn es irgendwo Regeln gibt, die verhindern, dass Frauen ihre rechtmäßige Freiheit genießen – Regeln, die ihren Fortschritt in der Gesellschaft behindern – dann sind diese keine Gebote Gottes, sondern sind aus dem Egoismus der Männer geboren.“ — Amma
Wenn wir lernen wollen, das Alphabet zu lesen, sollten wir mit ABC beginnen, nicht mit XYZ. Was ist das ABC der Frauen? Was steckt in jeder Faser des Wesens einer Frau? Es ihr angeborenes mütterliches Wesen. Egal welchen Bereich der Arbeit eine Frau sich wählt, sie sollte diese Tugenden, die Gott oder die Natur ihr gütigerweise verliehen hat, nicht vergessen. Eine Frau sollte alle ihre Handlungen mit einer festen Verankerung in diesen Qualitäten ausführen. Dies bedeutet nicht, dass eine Frau Kinder haben muss – nur dass sie niemals ihre fundamentale Natur aufgeben sollte. Im Streben danach, ihre rechtmäßige Position in der Gesellschaft zurückzugewinnen, sollten Frauen niemals diese essentielle Natur verlieren. Es ist unmöglich für Frauen, echten Frieden zu erreichen, indem sie die Männer nachahmen. Wenn Frauen dem weiblichen Prinzip den Rücken kehren, wird dies im äußersten Versagen sowohl der Frauen als auch der Gesellschaft gipfeln. Die Probleme der Welt werden sich nur verschlimmern.
Tatsächlich ist das Erwachen der Qualitäten, die mit der Mütterlichkeit verbunden sind, das Gebot der Stunde. Nicht nur Frauen, sondern auch Männer sollte danach streben, diese Tugenden zu erwecken. Die Liebe der erwachten Mütterlichkeit ist eine Liebe und ein Mitgefühl, die nicht nur gegenüber den eigenen Kindern empfunden werden, sondern gegenüber allen Menschen, Tieren und Pflanzen, Felsen und Flüssen -eine Liebe, die sich auf die ganze Natur und alle Lebewesen erstreckt. Diese universelle Mütterlichkeit ist göttliche Liebe und das ist Gott.
„Was steckt in jeder Faser des Wesens einer Frau? Es ihr angeborenes mütterliches Wesen. Egal welchen Bereich der Arbeit eine Frau sich wählt, sie sollte diese Tugenden, die Gott oder die Natur ihr gütigerweise verliehen hat, nicht vergessen. Dies bedeutet nicht, dass eine Frau Kinder haben muss – nur dass sie niemals ihre fundamentale Natur aufgeben sollte.“ — Amma
Wenn die Zukunft eine schöne, wohlduftende, voll erblühte Blume sein soll, müssen Frauen und Männer in allen Bereichen Hand in Hand voranschreiten. Wer sich Frieden und Zufriedenheit wünscht, muss dies beachten, genau jetzt, in diesem Moment. Um einer vielversprechenden Zukunft willen müssen Herz und Geisteshaltung von Frauen und Männern eins werden.
Sri Mata Amritanandamayi Devi (Amma) ist eine weltbekannte humanitäre und spirituelle Führungspersönlichkeit. Amma ist die Leiterin von Embracing the World, einem multinationalen Kollektiv gemeinnütziger Organisationen, die sich dem Ziel widmet, den Armen und Bedürftigen Nahrung, Kleidung und Obdach bereitzustellen. Embracing the World hat mittels Berufsbildung, Mikrofinanzierung und Selbsthilfegruppen mehr als 100.000 Frauen geholfen, ihre eigene Heimtätigkeit zu starten. Amma ist auch die Kanzlerin der Amrita University, die 2016 zu Indiens erstem UNESCO Lehrstuhl zu Geschlechtergleichstellung & Frauenförderung gemacht wurde. Jeden Tag kommen tausende Menschen, um Ammas Trost, spirituellen Weisheit und Segnungen zu ersuchen, die sie in der Form einer mütterlichen Umarmung schenkt.